Architektin Kieselalge: Diatomeenschalen sind Vorbild für nachhaltigen Leichtbau


Mikroskopisch kleine Kieselalgen sind wahre Meister im Leichtbau. Ihre Schalen sind bei minimalem Materialeinsatz extrem stabil. Forschende des Alfred-Wegener-Instituts untersuchen die Bauprinzipien der Exoskelette und entwickeln daraus nachhaltige Architektur, die klimaschädlichen Beton einspart.
Bauen mit Beton trägt erheblich zum menschengemachten Klimawandel bei. Denn bei der Herstellung von Zement, der im Beton als Bindemittel fungiert, werden große Mengen CO2 freigesetzt. So ist allein die Zementindustrie für acht Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens noch erreicht werden sollen, muss die Menschheit also weg vom Beton – durch alternative Baustoffe, Einsparungen beim Material oder beides.
Am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) arbeiten Forschende der Arbeitsgruppe Bionischer Leichtbau an nachhaltigen Lösungen und schauen dabei in die Meere. Denn winzige Kieselalgen (Diatomeen) im Ozean haben die Kunst des Weglassens längst perfektioniert. Um sich vor Fressfeinden zu schützen, hüllen sich die Mikroalgen in eine stabile Schale aus relativ schwerem Siliziumdioxid, das auch Hauptbestandteil von Quarzsand, Glas und Opalen ist. Damit sie im Wasser schweben und nicht zu Boden sinken, sind die Schalen wie ein Fachwerkgerüst durchbrochen. Das macht die Kieselalgen durch Materialersparnis sehr leicht und lässt zudem Nährstoffe sowie Sonnenlicht für die lebenswichtige Photosynthese durch. Über Jahrmillionen hat die Natur diese Strukturen optimiert: Sie sind die perfekte Kombination aus maximaler Stabilität und minimalem Materialeinsatz. Und sie sehen noch dazu wunderschön aus.
Die AWI-Arbeitsgruppe Bionischer Leichtbau erforscht die Prinzipien, nach denen die je nach Art sehr unterschiedlichen Exoskelette der Kieselalgen aufgebaut sind. Welche tragenden Elemente müssen vorhanden sein? Wie sind diese angeordnet? Und welchen Kräften halten sie stand? Ihre Erkenntnisse setzen die Forschenden dann in von den Algen inspirierte Prototypen etwa für nachhaltige Bauelemente um.
Beispielhaft für diesen Ansatz ist das Projekt BEA (Bremerhavener Experimentalhaus Architektur). Das AWI-Projektteam vereint dabei Biologie, Architektur, Informatik und Ingenieurwesen, um Baustoffe leichter, ressourceneffizienter, klimafreundlicher – und schöner zu machen. Im Rahmen von BEA wurden unter anderem transparente, quadratische Wandelemente entwickelt. Deren Außenhülle und Innenleben bestehen aus einer von Kieselalgenschalen inspirierten sechseckigen Wabenstruktur mit eingefasster farbiger Glasplatte an Vorder- und Rückseite. Das Wandelement ist dadurch sehr leicht, stabil, lichtdurchlässig, wärmedämmend – und ästhetisch ansprechend. Die Module lassen sich leicht zu größeren Wänden montieren und werden derzeit in einem Reallabor weiter optimiert.
Besonders bei BEA ist der regionale Bezug stark ausgeprägt. So entsteht in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Playern mitten im Bremerhavener Stadtteil Lehe ein „Bionischer Garten“. Die Fläche wird nicht nur bepflanzt, sondern auch mit einem Pavillon und einem Schattenspender ausgestattet, der an einen futuristischen Baum erinnert. Beide Bauwerke haben Kieselalgen zum Vorbild und sollen von der benachbarten Schule für Freiluftunterricht zum Thema Bionik (Übertragung von Phänomenen aus der Biologie auf die Technik) genutzt werden. Weil BEA einen klaren roten Faden von der Meeresforschung über Bionik und nachhaltige Architektur bis hin zu öffentlicher Teilhabe und Bildung knüpft, wurde das Projekt 2024 mit dem Nachhaltigkeitspreis der Metropolregion Nordwest ausgezeichnet.