03.01.2023
Stefanie Arndt

Polarforschung: Expeditionen in eine schwindende Welt

In ihrem neuen Buch erzählt Stefanie Arndt, Schneeforscherin am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), wie das Abschmelzen der Polkappen unseren Planeten für immer verändern wird. Ein Auszug.

Mein großer Bruder besaß früher einen Globus. Als Kind hockte ich oft davor, drehte ihn und sah mir die Kontinente an. Die Länder waren in verschiedenen Farben eingezeichnet, doch die vorherrschende Farbe war Blau – das Meer. In weiten Flächen dehnte es sich zwischen dem bunten Stückwerk aus. Oben und unten, dort wo der Globus in der Halterung saß, erstreckten sich große weiße Flächen – das «ewige Eis». Eingerahmt von Landmassen lag die Arktis direkt oben auf. Aber um die Antarktis sehen zu können, musste ich den Kopf weit neigen, so tief unten lag sie. Um sie her: nichts als tiefes Blau.

Dass ich als Erwachsene noch oft an diesen Globus zurückdenken würde, während ich in der Arktis und Antarktis den Schnee erforsche, das konnte ich mir damals nicht vorstellen. Auch heute, zwanzig Jahre später, führt mir diese Erinnerung vor Augen, wie weit mein Arbeitsplatz vom Rest der Welt entfernt ist, wie unwirtlich und entlegen er anderen Menschen erscheinen muss. Weit entfernt nicht nur von dem alltäglichen Leben, das wir führen, sondern auch von der Umwelt, die uns umgibt, den Bedingungen, wie wir sie kennen.

4000 Kilometer liegen zwischen der Antarktis, meiner Forschungsheimat, und den nächsten besiedelten Regionen. Bis nach Berlin, in die pulsierende Hauptstadt Deutschlands und dem Ort, wo meine Familie lebt, sind es über 14000 Kilometer.

Wie verändern sich die Polarregionen und mit ihnen unser Heimatplanet?

Wenn ich heute an Bord der Polarstern, dem deutschen Forschungseisbrecher und Flaggschiff des Alfred-Wegener-Instituts, in den Polarregionen unterwegs bin, bin ich das als Teil einer Gruppe von meist über hundert Expeditionsteilnehmer*innen aus den verschiedenen Ecken dieser Welt, neben der 44-köpfigen Crew des Eisbrechers – darunter der Kapitän, Ingenieure, Stewards und Stewardessen, Koch, Schiffsarzt und Schiffsmechaniker – Wissenschaftler*innen aus der Meteorologie, der Meereisphysik, der Ozeanografie, der Biologie und vielen anderen Forschungszweigen: Gemeinsam forschen wir Seite an Seite in den entlegensten Regionen der Erde, um zu verstehen, wie sich die Polarregionen und mit ihnen der Planet, den wir Menschen unsere Heimat nennen, verändert. Wie schon die ersten Forscher, die zu diesen Reisen aufbrachen, wollen auch wir «verschiedenartige wissenschaftliche Beobachtungen» gewinnen und «zum Verständnis jenes riesigen Erdraumes, wie zum Fortschritt aller Wissenszweige» beitragen.

Auf der Reise in die Polarregionen lösen die ersten am Horizont gesichteten Eisberge auf der Polarstern pure Freude aus – sind sie doch Wegweiser der Natur, die uns zeigen, dass wir auf dem richtigen Kurs sind. Nicht mehr lange, dann verändert sich auch der Ozean, und immer mehr Weiß löst das tiefe Blau ab. Vereinzelte Eisschollen weichen einer nahezu geschlossenen Meereisdecke, und der Bug der Polarstern schiebt sich langsam durch diese so fremde Welt. Das Rauschen des Wassers wird dann durch das Kratzen des Eises am Bug abgelöst – in dünnem Eis ein ganz zarter, leiser Ton, je dicker es wird, desto mehr geht das Kratzen in ein Krachen über. Ein Geräusch, das in mir ein wohliges Gefühl auslöst: Ich bin zu Hause, zurück im Eis. Es geht im Zickzackkurs um größere Eisschollen, dann wieder nimmt der Eisbrecher Anlauf, schiebt sich auf die dicken Schollen und drückt sie mit seinem Gewicht von fast 20000 Tonnen auseinander. Aber manchmal muss sich auch der stärkste Eisbrecher geschlagen geben, wir haben uns festgefahren, und es ist Geduld bis zum nächsten Wetterwechsel gefragt.

Eine einzigartige Stille im weißen Nirgendwo

Wenn ich dann endlich wieder über das Meereis laufe, stelle ich meist recht schnell fest, dass ich die Rotorengeräusche des Hubschraubers, der mich auf der Scholle abgesetzt hat, nicht mehr hören kann. Ich höre gar nichts mehr. Um mich herum herrscht Stille. Eine Stille, die wir in unserer zivilisierten Welt nicht kennen. Da sind keine Maschinengeräusche, keine Stimmen, kein Handyklingeln, kein Hundegebell, nicht mal das Rascheln von Blättern im Wind. In jenen raren Momenten halte ich inne, denke an den Globus meines Bruders, und langsam sinkt die Erkenntnis ein: Genau dort bin ich. Inmitten des blauen Ozeans, an der Stelle, die man nur sieht, wenn man den Hals verrenkt. Unter meinen Füßen: Ein bis zwei, manchmal nur ein halber Meter Meereis, und darunter: mehrere Tausend Meter Wasser. Über mir und um mich herum: eisige Polarluft und weiter oben das, was wir Himmel nennen und unsere Erde umgibt: mehrere Tausend Meter Atmosphäre. Ich sehe mich für einen Moment als winzigen Punkt im Nirgendwo auf dem bunten Globus. Obwohl ich seit über zehn Jahren die Polarregionen erforsche und solche Situationen inzwischen zu meinem Alltag zählen könnte, sind es diese Momente, die mich tief berühren und mir vor Augen führen, wie einzigartig das ist, was ich in den fernen Polarregionen unserer Erde erleben darf.

Dabei wäre es noch zu Schulzeiten für mich undenkbar gewesen, einmal in Antarktis und Arktis über das Meereis zu laufen. Obwohl für mich schnell klar war, dass ich Meteorologie, die Physik des Klimasystems, studieren wollte, blieb die Frage offen, wo ich das tun könnte. Ein unscheinbares Poster mit dem Titel «Polarmeteorologie» am Tag der offenen Tür an der Universität Hamburg weckte mein Interesse für diesen exotischen Ort. Polarmeteorologie? Polarregionen? Polarforschung? Wäre das etwas für mich? Auch wenn ich mich zuletzt für den Meteorologie-Bachelor in Berlin entschied, hat mich die Polarfaszination durch das Studium getragen. So kam es auch, dass ich mir schon in jungen Jahren einen großen Traum erfüllen konnte: die erste Expedition in die Antarktis. Während meine Eltern anfangs noch hofften, dass es mir im Reich der Pinguine zu kalt, zu weiß und zu einsam sein würde, waren sie spätestens überzeugt, als ich nach jener Expedition mit glänzenden Augen wieder vor ihnen stand: Ich war polarinfiziert.

Für das Masterstudium ging es nach Hamburg, um im Nebenfach Ozeanografie zu studieren, und von dort aus war es nur noch ein kleiner Sprung zum Meereis. Das gefrorene Element, das Ozean und Atmosphäre voneinander trennt, wurde zu meinem Fachgebiet. Seit vielen Jahren untersuche ich es als Meereisphysikerin am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, kurz auch AWI, in Bremerhaven. Mein Forschungselement ist die Schneeauflage auf dem antarktischen Meereis. Während für die meisten diese weiße Schicht nur weiß ist, erzählt mir der Schnee seine Geschichte – nicht ohne Grund nennen mich Kolleg*innen und der Kapitän der Polarstern auch liebevoll «die Schneefrau».

Polarlichter über weißen Hügeln
Polarlichter über weißen Hügeln
©
Stefanie Arndt

In Antarktis und Arktis beobachten Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen, dass der Klimawandel alle Sphären erfasst hat: Seien es die steigenden Temperaturen in der Arktis – nirgendwo heizt sich die Erde derzeit schneller auf –, sei es das Abschmelzen der riesigen Eisschilde der Antarktis, die immer wieder auftretende Instabilität von Luft- und Meeresströmungen oder der voranschreitende Rückgang der Artenvielfalt in unseren Meeren – da ist nichts, was nicht von ihm betroffen wäre.

Die Polargebiete sind heute Frühwarnsysteme und zugleich Brennpunkte des Klimawandels. Nirgendwo sonst auf der Erde reagiert das System so empfindlich und direkt. Die Zeichen sind eindeutig. Der Klimawandel ist keine theoretische Bedrohung mehr, sondern eine offensichtliche Tatsache, und die sichtbaren Veränderungen in den fragilen Ökosystemen dieser Erde sind dabei nur Teil einer ganzen Kaskade von Umwälzungen, deren Zeug*innen wir aktuell werden.

Wie schnell diese Veränderungen voranschreiten werden, wie sie sich auswirken, ab welchem Punkt sie unumkehrbar sein werden, das alles können wir nicht mit letzter Sicherheit sagen, auch deshalb, weil wir noch immer wenig über die herrschenden Prozesse in Antarktis und Arktis wissen. Die Veränderungen lassen sich nur aufhalten oder zumindest verlangsamen, wenn wir die Zusammenhänge erkennen und verstehen.

Die Schnee- und Eiswelt erforschen, damit zukünftige Generationen sie noch erleben können

Wir Polarforscher*innen versuchen, die Grundlagen zu erfassen und zu dokumentieren. Als Meereisphysikerin kann ich durch meine Forschung einen wichtigen Beitrag leisten, damit wir besser verstehen, wie groß schon heute der Einfluss des Klimawandels ist. Denn zwar wissen wir, dass die Polarregionen am stärksten von den momentanen Veränderungen im Klimasystem betroffen sind, aber gleichzeitig zeigen Klimamodelle in genau diesen Regionen die größten Unsicherheiten. Umso wichtiger, dass wir in der Arktis und Antarktis regelmäßig Messungen durchführen. Ich erhebe ebenso wie meine Kolleg*innen verlässliche Daten, die in die Berechnung von Klimamodellen einfließen und immer genauere Vorhersagen ermöglichen.

Buchcover mit Stefanie Arndt in warmer Kleidung, im Hintergrund ein Schiff.
Buchcover mit Stefanie Arndt in warmer Kleidung, im Hintergrund ein Schiff.
©
Stefanie Arndt/rowohlt polaris

Mein Forschungsgebiet – die Schneedecke auf dem Meereis im Südozean – nimmt dabei eine ganz besondere Rolle ein. Denn der Schnee ist derjenige, der das Meereis vor den vorherrschenden Veränderungen in der Atmosphäre schützt, aber auch zuerst genau darauf reagiert und damit einen Wandel für das darunter liegende Meereis einläutet. Es ist wichtig diese Veränderungen nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht umfangreich zu beleuchten, sondern auch unsere daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Gesellschaft und damit in die Politik zu tragen, um gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie wir dem Klimawandel entgegenwirken könnten und wie wir uns gleichzeitig an die bereits auftretenden Auswirkungen anpassen werden müssen. Denn der Klimawandel ist da. Wenn wir glauben, das alles sei weit weg von uns und nicht relevant, so irren wir.

Nur wenn wir verstehen, was die Polargebiete für das Klima bedeuten, die Zusammenhänge erkennen und dabei den Planeten nicht aus dem Blick verlieren, ermöglichen wir, dass auch die Kinder zukünftiger Generationen, wenn sie den Kopf neigen, die weiten weißen Flächen auf ihrem Globus im Kinderzimmer entdecken und eine Faszination für diese einzigartigen Gebiete unserer Erde entwickeln können.

 

Ein Auszug aus dem Buch „Expeditionen in eine schwindende Welt“, 224 Seiten, erschienen bei rowohlt polaris, 2022.

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