13.07.2021
Reimund Schwarze

Fit for 55: Wie die EU ihre Klimaziele erreichen will

Mit dem Europäischen Klimagesetz wurde jüngst im Rahmen des Green Deal das Ziel einer klimaneutralen EU bis 2050 festgezurrt. Ein wichtiges Zwischenziel soll 2030 erreicht sein, mit einer Reduzierung der Treibhausgase um 55 Prozent. Nun hat die EU-Kommission Vorschläge für ein Gesetzespaket vorgelegt, mit dem diese Klimaziele erreicht werden sollen. Es trägt den Titel "Fit for 55"

Fit for 55 umfasst folgende Gesetzgebungsinitiativen:

  • Änderung des EU-Emissionshandelssystems (ETS), insbesondere Einbeziehung von Seeverkehr, verbunden mit einem Vorschlags für die Generierung von Eigenmittel der EU durch das ETS.
  • Kohlenstoff-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), ebenfalls verbunden mit einem Vorschlag für CBAM zur Eigenmittelgenerierung
  • Verordnung zur nationalen Lastenteilung (ESR)
  • Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie
  • Änderung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED)
  • Änderung der Energieeffizienz-Richtlinie (EED
  • Verringerung der Methanemissionen im Energiesektor
  • Änderung der Verordnung zur Einbeziehung von Treibhausgasemissionen und -abbau durch Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF)
  • Änderung der Richtlinie zum Aufbau einer Infrastruktur für alternative Brennstoffe (AFID)
  • Änderung der Verordnung zur Festlegung von CO₂-Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen und für neue leichte Nutzfahrzeuge
  • Änderung der Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (EPBD)
  • Änderung des dritten Energiepakets für Gas (Richtlinie 2009/73/EU und Verordnung 715/2009/EU) zur Regulierung wettbewerbsfähiger dekarbonisierter Gasmärkte

Quelle: https://www.europarl.europa.eu/legislative-train/theme-a-european-green…

 

In genau 29 Jahren soll es soweit sein. Wenn heutige Kitakinder selbst in der Familiengründung sind, ist die EU klimaneutral. So sieht es das jüngst verabschiedete Klimagesetz der Mitgliedstaaten vor. Ein zentrales Zwischenziel auf dem Weg dorthin ist die Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990. Dieses Ziel wurde nun selbst Namensgeber: Die EU-Kommission hat heute eine Reihe von Gesetzesvorschlägen vorgelegt, mit denen die EU das Ziel für 2030 erreichen soll – das Vorschlagspaket trägt den Titel „Fit for 55“.

Das Gesetzespaket bildet den Startschuss für einen zweijährigen politischen Verhandlungs- und Legistlativzyklus der EU-Politik: mit dem EU-Parlament, dem EU-Rat und den Mitgliedsländern. Im Kern geht es um die Frage, ob der Europäische Green Deal die EU auf einen tiefgreifenden Weg zur Klimaneutralität bis 2050 führen kann. Die zwölf im Paket enthaltenen Gesetzgebungsvorschläge (s. Kasten links) beinhalten Korrekturen an bestehenden Richtlinien und Verordnungen und neue Maßnahmen zur Umsetzung des EU-Klimagesetzes, das gerade erst Ende Juni beschlossen wurde. Dieser Umsetzungschritt ist wichtig, um die EU an die Vorgaben des Pariser Klimaübereinkommens heranzuführen und damit zugleich “fit” zu machen für die internationalen Klimaverhandlungen der UN in Glasgow Anfang November.

Die für die Klimaverhandlungen der UN wichtigsten Neuerungen betreffen vor allem die Einführung zweier neuer Instrumente - dem Kohlenstoffgrenzausgleichsmechanismus (CBAM) und die Ausweitung des Emissionshandels auf die Meeresschifffahrt. Der nun vorliegende Reformentwurf bestätigt auch zuvor schon diskutierte Pläne, dass ein neues, separates europäisches Emissionshandelssystem (EU-ETS) für Gebäude und Straßenverkehr enstehen soll.

Reformen des EU-Emissionshandelssystem (EU-ETS)
Das EU-Emissionshandelssystem ist das zentrale klimapolitische Instrument der EU. Es verpflichtet Kraftwerke, Fabriken und Fluggesellschaften, die innereuropäische Flüge durchführen, Emissionsrechte zu kaufen, wenn sie Kohlendioxid (CO2) ausstoßen. Mit “Fit for 55” hat die Europäische Kommission eine grundlegende strategische Überarbeitung und Erweiterung des Systems vorgeschlagen. Demnach soll das Angebot an CO2-Zertifikaten im ETS jährlich gekürzt werden und die Anzahl der Zertifikate, die jedes Jahr in das ETS aufgenommen werden, schneller als bisher abnehmen.

Die sogenannte “Marktstabilitätsreserve" (MSR) des ETS, die einen Aufbau von überschüssigen Zertifikaten verhindern soll, soll gestärkt werden, um die Höhe der EU-Kohlenstoffpreise zu kontrollieren und zu verstetigen. Wenn zwischen 833 Millionen bis 1,096 Milliarden Emissionsrechte im Umlauf sind, würde die MSR Genehmigungen aus dem Markt ziehen, um die Zahl auf 833 Millionen zu stabilisieren; bei über 1,096 Milliarden überschüssigen Zertifikate würde die Reserve jährlich 24 Prozent bis 2030 dem Markt entziehen, so lautet der Vorschlag. Die EU-Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament müssen dem endgültigen Regelvorschlag aber noch zustimmen - ein Prozess, der Jahre lang dauern könnte.

Die kostenlose Vergabe von Emissionszertifikaten für die Industrie würde mit dem Legislativvorschlag enden. Das ist ein Schritt, der die Kohlenstoffkosten für alle Hersteller von Stahl, Zement, Aluminium und Düngemitteln in der EU erhöhen würde. Er müsste daher durch eine Kohlenstoffgrenzabgabe (CBAM) zum Schutz dieser Industrien flankiert werden.
Der aktuelle Legislativvorschlag der EU führt auch dazu, dass das ETS – wie schon der innereuropäische Flugverkehr seit 2013 - auf die Schifffahrt ausgeweitet wird. Zudem entsteht ein neues, separates Emissionshandelssystem für den Verkehr und die Gebäudeheizungen.

Angesichts der zu erwartenden Preissteigerungen für diese, teils essentiellen Güter für die Haushalte, schlägt die Kommission vor, dass mit den neuen Mitteln aus der ETS-Ausweitung ein “Klima-Sozialfonds” geschaffen wird. Daraus erhalten die Mitgliedstaaten Mittel, um Bürger*innen Investitionen in Energieeffizienz, saubere Mobilität und modern Heiz- und Kühlsysteme zu gewähren. Dafür sollen 25 Prozent der erwarteten Einnahmen aus dem Emissionshandel zur Verfügung stehen sowie weitere Mittel der Mitgliedstaaten.

Reimund Schwarze vor dem UFZ in Leipzig
Reimund Schwarze
Prof. Dr. Reimund Schwarze
©
UFZ

Einführung eines Kohlenstoffgrenzausgleichsmechanismus (CBAM)
Ein weiterer wichtiger Vorschlag des “Fit for 55”-Pakets, ist der Grenzausgleichsmechanismus für Kohlendioxid, kurz CBAM. Die Maßnahme zielt darauf ab, europäische Unternehmen vor Umweltdumping zu schützen und "Carbon Leakage" zu vermeiden. Dieser Begriff bezeichnet, dass Industrien auf der Suche nach niedrigeren Produktionskosten die Produktion oder neue Fabriken ins Ausland verlagern. Die Maßnahme könnte die Form einer Verordnung annehmen, die einzelne Produkte abdeckt. Die kostenlose Vergabe von Zertifikaten für diese Sektoren wird damit auslaufen.

Brüssel bewegt sich mit dem Vorschlag, der bereits in den USA, China und anderen Schwellenländern heftige Proteste ausgelöst hat, auf dünnem Eis. Entscheidend wird jetzt sein, ob der CBAM in der endgültigen Fassung mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) vereinbar ist. Das Europäische Parlament hat den Vorschlag eines umfassenden CBAM nachdrücklich befürwortet und gefordert, dass der Mechanismus bereits bis 2023 in Kraft tritt. Die Reaktionen vieler politischer und ökonomischer Beobachter hingegen sind eher kritisch.

Schwierig ist auch die vorgesehene Verknüpfung der Eigenmittel aus dem CBAM mit der Finanzierung von Klimaschutz in Entwicklungsländern. Entwicklungsländer sollen unterschiedlos wie Industrieländer vom Grenzausgleichsmechanismus betroffen sein, wenn sie in einen Umweltdumping-Wettbewerb treten. Damit sind kontroverse Diskussionen in Glasgow sicher.

Ein Paket für alle Bereiche der europäischen Wirtschaft
Allein der Umfang des Gesamtpakets demonstriert schon die Ernsthaftigkeit, mit der die EU, den Green Deal und das EU-Klimaschutzgesetz in die Umsetzung bringt. Der Querschnittscharakter des “Fit für 55”-Pakets, der praktisch alle Bereiche der europäischen Wirtschaft betrifft, könnte damit zur Messlatte für die Glaubwürdigkeit ähnlicher Initiativen in den großen Industrieländern (G7) und in China werden. Wie auch immer sich die Einzelvorschläge in den nun anstehenden Verhandlungsprozessen mit dem EU-Parlament, dem Rat der Gemeinschaft und in den Mitgliedländern gestalten werden: “Fit for 55” bedeutet den Auftakt zu einer – auch in Deutschland nach dem Klimaschutzgesetz 2021 – überfälligen Umsetzungsdiskussion.

Unser Autor, Prof. Dr. Reimund Schwarze, ist Experte für Klimapolitik am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig.

 

Weitere Einschätzungen von Helmholtz-Wissenschaftler*innen:

"Das heute vorgestellte Gesetzespaket ist ein großer Schritt und zeigt auf, welch umfassende Transformation in allen Sektoren erreicht werden muss. Es wird auf europäische Zusammenarbeit gesetzt, um eine Emissionsreduktion von mindestens 55 Prozent bis 2030 zu erreichen, und auch auf einen noch genauer zu bestimmenden sozialen Ausgleich. Dem Landmanagement und den Kohlenstoffsenken in der Natur kommt eine zunehmend wichtige Rolle im Erreichen der Ziele zu. Hier gibt es noch viele offene Fragen, wie Schutz von Klima und Biodiversität sich gegenseitig verstärken können, anstatt in Zielkonflikte zu geraten. Ob Natur sich ein Recht auf Existenz durch ihre Kohlendioxid senkende Funktion verdienen muss, ist eine fast philosophische Frage, die aber zunehmend wichtig wird zu klären."


Prof. Dr. Antje Boetius, Wissenschaftliche Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

 

„Wir schaffen und vermitteln Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Dies ist die Mission des KIT, der Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft. Dafür entwickeln wir am KIT gemeinsam mit starken Partnern aus der Wirtschaft neue Technologien und setzen uns selbst ehrgeizige Ziele für Klimaschutz und Nachhaltigkeit am KIT. Dass die EU eine so starke und aktive Rolle bei der Gesetzgebung für die Klimaziele spielt, begrüßen wir sehr."

Prof. Dr. Johannes Orphal, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Beauftragter des Präsidiums des KIT für Klimaschutz und Nachhaltigkeit.

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