23.11.2022
Almut Gaude

„Biodiversität ist wie eine Versicherung gegen Wetterextreme“

Josef Settele ist Agrarbiologe und Professor für Ökologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er erforscht am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle, wie sich das Klima und Landnutzungsänderungen auf die biologische Vielfalt auswirken – und was eine reduzierte biologische Vielfalt mit Ökosystemen und uns Menschen macht. Settele arbeitete maßgeblich an umfassenden Zustandsberichten zum Klimawandel und zur globalen Biodiversität mit und formulierte gemeinsam mit anderen Wissenschaftler:innen politische Empfehlungen für die UN-Weltnaturschutzkonferenz in Kanada.

Josef Settele
Josef Settele
Josef Settele
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UFZ/ André Künzelmann

Herr Settele, wie steht es weltweit um die Biodiversität?

Ich durfte einen entsprechenden Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES mit zwei weiteren Forschern:innen leiten. Insgesamt waren 500 Wissenschaftler:innen aus über 50 Ländern daran beteiligt, Statistiken der weltweiten Bestände der Tier- und Pflanzenarten zu analysieren. Die schlechte Nachricht ist, dass von geschätzt acht Millionen auf der Erde vorhandenen Arten eine Millionen Arten mittelfristig vom Aussterben bedroht sind, also jede achte Art. Bei den Wirbeltieren ist sogar ein Viertel der Arten bedroht. Bei den Amphibienarten sind bereits 2,5 Prozent ausgestorben. In den letzten 50 Jahren beobachten wir zudem eine drastische Beschleunigung des Artenverlustes.

Die gute Nachricht aber ist: Die von uns prognostizierten eine Millionen Arten sterben nur dann aus, wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern – das heißt, wir haben noch Handlungsmöglichkeiten, um diesen Verlust zu stoppen.

Was sind die Haupttreiber des Artenverlustes?

Wir haben fünf direkte Treiber für den Verlust von Arten und den Rückgang von funktionierenden Ökosystemen in den letzten 50 Jahren identifiziert. Das sind die Änderung der Land- und Meeresnutzung, die direkte Ausbeutung von Ökosystemen, der Klimawandel, die Umweltverschmutzung und die Ausbreitung von invasiven Arten. Der Klimawandel steht derzeit als Ursache des Artensterbens auf Platz 3 bis 4 mit stark vorrückender Tendenz. Durch Erderhitzung und Niederschlagsverschiebung gibt es in der Natur zwar auch Gewinner, aber deutlich mehr Verlierer: Grob drei Viertel aller Arten leiden unter der schnellen Erwärmung, ein Viertel könnte potenziell profitieren.

Wie genau hängen die Klimakrise und die Biodiversität zusammen?

Klima und Biodiversität bedingen sich gegenseitig, wenn die Systeme gut funktionieren sollen. Wenn ich ein ausgewogenes Klima habe, dann habe ich mehr Arten, die in der Lage sind, unser Ökosystem am Funktionieren zu halten. Wenn ich wiederum viele Arten habe, habe ich mehr Optionen, dass ich den Kohlenstoff in den Beständen halten kann. Das heißt Artenvielfalt begünstigt es, dass das über Jahrzehnte und Jahrhunderte in Böden oder Pflanzen gespeicherte CO2 dort auch verbleibt und nicht freigesetzt wird.

Können Sie mal ein konkretes Beispiel dafür nennen?

Da gibt es eines direkt vor meiner eigenen Haustür: den Harz mit seinen vielen Fichten und dem Borkenkäfer. Der Borkenkäfer ist eine Art, die wärmeliebend ist und sich durch die steigenden Temperaturen hier in Deutschland ausbreitet. Das wäre an sich kein Problem, wenn wir in unseren Wäldern eine hohe Vielfalt an Baumarten hätten. Denn der Borkenkäfer befällt nur geschwächte Bäume. Fichten sind aber – anders als viele andere heimische Baumarten – besonders anfällig für die steigenden Temperaturen.

Wenn in einem gesunden Mischwald eine Art durch höhere Temperaturen und den Befall der Borkenkäfer ausfällt, gibt es immer noch widerstandsfähigere Arten und der Wald bleibt intakt. Wälder mit einer hohen Vielfalt an Baumarten haben also eine starke Resilienz gegenüber Klimaveränderungen und können so auf längere Sicht stabil Kohlenstoff speichern.

Das Problem ist allerdings, dass wir in unseren Wäldern einen hohen Anteil von Fichten oder sogar ausschließlich Fichten stehen haben. Das ist menschengemacht, etwa im Harz. Führt dann die Erderwärmung zur Schwächung der einen vorherrschenden Art – in dem Fall der Fichte – haben die Borkenkäfer leichtes Spiel und man verliert schnell den gesamten Wald. Ein großer Teil des im Wald gespeicherten Kohlenstoffes wird dann zu Lasten der Klimas freigesetzt.

Das muss verstanden werden: Der Erhalt und der Wiederaufbau der Biodiversität ist eine Versicherung gegen Schäden und gegen Wetterextreme. Und bei Versicherungen ist es ja immer so: Sie sind kein Luxus, sondern etwas Gutes und Notwendiges, und jeder schließt sie für den Notfall ab – letztlich in der Hoffnung, sie nicht zu benötigen.

Ihr Spezialgebiet ist ja Landnutzung – also etwa durch die Land- oder Forstwirtschaft. Gibt es Beispiele für eine Landnutzung, die eine hohe Artenvielalt sicherstellt und gleichzeitig gut fürs Klima ist?

Ein Musterbeispiel sind alte Landnutzungssysteme, die sich über lange Zeit zwischen Mensch und Natur ausbalanciert haben. Hier in Deutschland sind das zum Beispiel Dauergrünlandbereiche wie Wachholderheiden der Schwäbischen und Fränkischen Alb oder auch die Almen der Allgäuer Berge. Diese Landschaften werden seit Jahrhunderten als Weideland für Kühe oder Schafe genutzt. Sie sind wahre Arten-Hotspots, unter anderem leben hier seltene Schmetterlings- und Bienenarten. Gleichzeitig hat Grünland, das über längere Zeit extensiv bewirtschaftet wurde, sehr hohe Kapazitäten für die Kohlenstoffspeicherung. Das ist bei Weiden und Wiesen nicht so offensichtlich wie bei Wäldern, aber auch das dichte, umfangreiche  Wurzelwerk des Grünlands nimmt viel CO2 auf. Und auch hier gilt, je vielfältiger an Kräutern und Gräsern so eine Grünlandfläche ist, desto mehr Puffereffekt gibt es, wenn eine Art oder mehrere zum Beispiel wegen des Temperaturanstiegs ausfallen. 

Im Dezember 2022 findet die Weltnaturschutzkonferenz in Montréal statt. Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, was getan werden muss, um zugleich der Biodiversität und dem Klima zu helfen?

Das sind drei Punkte: Zum einen müssen Moore und Wälder, aber auch alte Kulturlandschaften geschützt und wiederhergestellt werden, und zwar dort, wo sie früher einmal waren. Denn neue Bäume wachsen dort am besten, wo schon einmal Bäume wuchsen und eben nicht auf dem fürs Klima wertvollen Grünland.

Zweitens müssen die Lieferketten und unser Konsumverhalten ins Visier genommen werden. Viel von dem, was wir konsumieren, wird im Ausland produziert, wo dann auch die Umweltschäden entstehen. Es kann nicht sein, dass unserem Konsum riesige Flächen an wertvollen Wäldern in Indonesien oder Südamerika zum Opfer fallen, weil dort Palmöl produziert bzw. Soja als Futtermittel für unsere Nutztiere angebaut wird. Es braucht mehr Klasse statt Masse – das heißt wir können unser Konsumverhalten in Sachen Fleisch nicht aufrechterhalten. Die Tiere brauchen viel zu viel Energie – vor allem Schwein und Rind, das müssen wir ändern. Wir müssen die Massentierhaltung eindämmen und dafür die extensive Landnutzung fördern – also das schonend genutzte Grünland für Nutztiere erhalten und ausweiten.

Und drittens brauchen die Länder des globalen Südens finanzielle Unterstützung, damit sie sowohl die Biodiversität in ihren Naturräumen als auch die Vielfalt ihrer Nutztiere und -pflanzen und ihrer lokalen, kleinteiligen und damit vielfältigen Anbaumethoden erhalten können. Ein erster Schritt hierzu ist der erst Ende November bei der Klimakonferenz beschlossene Fonds zur Kompensation der Klimaschäden für die ärmeren Staaten dieser Erde. Ähnliches wäre für die Biodiversität wichtig.

Gibt es auch Klimaschutzmaßnahmen, die der Biodiversität schaden?

Das sind beispielsweise einige der alternativen grünen Energien. Windkraft ist natürlich für den Vogelschutz schwierig, wobei ich die heftige Diskussion um die Windkraft etwas überzeichnet finde. Worüber wir uns sowohl beim Weltklimarat IPCC als auch beim Biodiversitätsrat einig sind, ist, dass Monokulturen für die Bioenergie nicht zielführend sind. Durch die riesigen Maisfelder, die nur zur Bioenergieherstellung genutzt werden, gehen wertvolle Flächen für die Nahrung und die Artenvielfalt verloren. Holz oder Mais für Bioenergie zu nutzen, ist völliger Nonsens. Das ist Konsens bei einer sehr großen Mehrheit von Wissenschaftlern und auch zahlreichen Regierungsvertretern, die bei internationalen Verhandlungen diese Einsicht teilten.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Professor Settele.

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